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Der König und seine Tonschale

Es war einmal ein König. Ein sehr guter und sehr mächtiger König. Er behandelte jeden mit Liebe und war absolut gerecht. Mit ihm in seinem Schloss lebten viele Angestellte. Die meisten von ihnen liebten auch den König. Doch unter ihnen war einer, der war eifersüchtig auf den König. Nicht, weil der König ihn jemals schlecht behandelt hätte. Im Gegenteil, Luca, so war sein Name, hatte selbst eine hohe Position, war angesehen und hatte stets mehr als genug. Dennoch wäre er selbst gerne König gewesen und so stieg seine Eifersucht Tag für Tag, wenn er sah, wie mächtig und angesehen der König war. Und so zog er durchs Schloss und begann hinter dem Rücken des Königs schlecht über ihn zu reden. Doch so sehr Luca auch versuchte, die anderen gegen den König aufzubringen, hatte er doch wenig Erfolg damit. Man konnte diesen König kaum hassen und jeder wusste,

dass der König gerecht und gut war.

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Der König hatte eine Tonschale, die er liebte, denn er hatte sie mit viel Liebe selbst gemacht und sie war sehr schön geworden. Das wusste Luca und er kannte ihren Wert für den König. Eines Tages genügte es Luca nicht mehr, den König schlechtzumachen. Seine Eifersucht kochte über und er hielt es nicht länger aus. Er wollte den König verletzen. Und so kam es, dass, als ein Angestellter die kostbare Tonschale zum König trug, Luca ihm hinterlistig ein Bein stellte. Der Angestellte stolperte und die Tonschale fiel zu Boden, vor die Füsse des Königs. Jeder konnte den Schmerz und die Trauer im Gesicht des Königs sehen, als er auf die vielen bunten Scherben vor ihm am Boden blickte, die einmal seine geliebte Tonschale gewesen waren.

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Schon kamen Angestellte und wollten die Scherben wegwischen und entsorgen. Doch der König stoppte sie. Dann ging er selbst hin und hob sorgfältig, Scherbe für Scherbe vom Boden auf. Jede noch so kleine Scherbe sammelte er ein und legte sie auf seinen Tisch. Dann befahl er, Gold und Kleber zu bringen. Wollte der König die Tonschale etwa reparieren? Sie war doch in so viele kleine Stücke zerbrochen. Was für eine Zeitverschwendung! Sie würde ja doch nie wieder aussehen wie vorher. Er soll sich doch eine neue machen, tuschelten die Angestellten. Hatte der König den Verstand verloren? Und wofür brauchte er das Gold? Er hatte doch nicht etwa vor, das Gold auch noch für die kaputte Schale zu verwenden? Und wenn er die Schale schon reparieren wollte, so sollte er sie doch zu einem Reparateur bringen, anstelle sich selbst die Finger schmutzig zu machen.

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Als das Gold und der Kleber gebracht wurden, setzte sich der König an seinen Tisch, mischte den Kleber und das Gold zu einer klebrigen goldenen Paste und begann damit vorsichtig Scherbe für Scherbe aneinanderzukleben. So klebte er die Tonschale Stück für Stück wieder zusammen. Den ganzen Tag sass der König an seinem Tisch und mit mindestens genauso viel Liebe, mit der er die Tonschale damals gemacht hatte, setzte er sie nun wieder zusammen.

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Dann stellte er die Schale mitten im Raum auf und legte seinen wertvollen Schmuck hinein.

Als die Angestellten die Schale erblickten, konnten sie ihren Augen kaum trauen. War das wirklich die alte Schale? Ja, sie war ganz die alte und doch war sie vollkommen neu und atemberaubend schön. Das war eine Schönheit, die weit über das hinausging, was wir von Schönheit verstehen. Nie hätten sie sich vorstellen können, dass aus etwas Kaputten etwas so Schönes werden konnte. All die Risse waren nun mit Gold ausgefüllt und zeichneten ein wundervolles Muster in die Schale. Obwohl sie zerbrochen war, war sie nun unendlich kostbar.


Stell dir vor du bist diese Tonschale und Gott der König.

Weisst du, wie sehr du geliebt bist?

Die Maus und der Löwe

Es war einmal eine kleine Maus. Sie lebte im Wald und war nicht besonders glücklich, denn die anderen Tiere trampelten ständig auf ihr herum. Mal wurde sie übersehen, mal extra angerempelt. So oder so wurde sie ständig herumgestossen, man trat ihr auf die Füsse oder den Schwanz und kaum einer nahm sie wirklich ernst.

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Eines Tages wurde es der Maus zu bunt. Sie hatte genug davon, ständig verletzt, ausgegrenzt, ausgenutzt und geärgert zu werden. Und so entschied die kleine Maus, um ihren Bau herum eine Mauer zu bauen. Und sie baute die Mauer immer höher und höher, bis wirklich niemand mehr darüber kam. Dann erst war die Maus zufrieden mit ihrem Werk. «Jetzt kann mir keiner mehr was», dachte sie sich und legte sich beruhigt schlafen. Endlich hatte sie Ruhe. Niemand konnte sie ärgern. Hier fühlte sie sich sicher.

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Und so ging es eine Weile. Die Maus kam zur Ruhe und sie genoss die Ruhe.

Doch gleichzeitig merkte die Maus, dass es ein bisschen zu ruhig war. Und nicht nur das. Es war auch kalt. Da war niemand zum Wärmen. Und es war ganz schön grau. Egal, wohin sie schaute, sie guckte nur auf die Mauern, die sie umgaben. Klar schützten diese Mauern die Maus. Aber die selben Mauern, die sie schützten, sperrten sie auch ein und versperrten ihr die Sicht. Und nicht nur konnte sie so niemand mehr verletzen, es konnte ihr auch niemand mehr eine Freude machen. Die Maus war sehr allein und merkte, dass das wohl auch keine Lösung war.

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Es dauerte nicht lange, da hielt es die Maus nicht mehr aus und riss die Mauern wieder ab. Das war viel Arbeit, aber mit jedem Sonnenstrahl, der neu hereinkam, merkte die Maus die Erleichterung und die Freude über all das Schöne, was sie all die Zeit mit ausgesperrt hatte. Nein, die Mauern waren auf die Dauer keine gute Lösung gewesen.

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Und die Maus genoss die freie Sicht auf den schönen Wald um sie herum und sie freute sich, wieder mit den anderen Tieren im Wald Zeit zu verbringen. Und dennoch dauerte es nicht lange, da waren ein paar Tiere wieder gemein zu ihr. Sie machten sich darüber lustig, wie klein die Maus war und wie sie aussah und wieder gab es Tiere, die auf ihr herumtrampelten.


Doch in diesem Moment erklang auf einmal das mächtige Brüllen eines Löwen im Wald. Auf einen Schlag waren alle still. Der Löwe lief direkt auf die Maus zu. Dann setzte er sich vor sie hin und begann zu ihr zu reden.


Da sagte der Löwe zur Maus: «Maus, du darfst Nein sagen: Nein zu allem, was dir schadet, ob extra oder nicht. Nein zu denen, die dich nicht schätzen. Nein, wenn du dich nicht wohlfühlst. Nein zu den Lügen. Dafür musst du keine Mauern bauen und dich nicht verstecken. Du kannst Grenzen ziehen ohne Mauern, nicht aus Angst sondern Liebe. Das musst du nur wissen. Dafür reichen Linien. Dafür reicht es, deinen Wert zu kennen.»

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«Löwe bleib da. Ich kann das nicht.» meinte die Maus mit piepsiger Stimme.

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«Ich bin immer da.» meinte der Löwe nur. Kurz darauf war er genauso plötzlich weg, wie er gekommen war.

«Hatte er nicht gerade gesagt, er sei immer da?», dachte sich die Maus. Das machte jetzt aber gar keinen Sinn.

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Doch als sie ihren Mund öffnete, erklang auf einmal wieder das Brüllen, allerdings kam es dieses Mal von der Maus. Und die Maus verstand.

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Ab da wusste die Maus, dass der Löwe immer auch in ihr war mit seiner ganzen Kraft und sie wusste, dass sie keine Mauern brauchte, um Grenzen zu ziehen. Und die Maus sagte Nein zu allem, was ihr schadete und Ja zu allem Guten und war sehr sehr glücklich.

©Ameisli 2021. Der Verkauf sowie jegliche Nutzung dieser Geschichten ausserhalb des Lesens sind untersagt.

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