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Herr Un-

Kennt ihr Herrn Un?

Herr Un, eigentlich Herr Ungeduld, war nicht nur un-geduldig. Er war auch un-zufrieden und un-glücklich und alles war ihm un-genügend und darum nannte man ihn kurz: Herr Un-.

In seinem Garten war alles tot und vertrocknet, denn er zog immer am Gras und an den Blumen, damit sie schneller wachsen, bis er sie früher oder später dadurch ausriss. Und wenn er nicht sah, dass etwas Fortschritte machte beim Wachsen, hörte er schon bald auf, es zu giessen.

Sein Körper war übersäht von Wunden, die nie heilten, denn immer, wenn sich Schorf bildete, zupfte er ihn ab, bevor die Wunde darunter geheilt war.

Doch vor allem verstand Herr Un nicht, warum bei ihm nichts so funktionierte, wie er es wollte. Und das zu verstehen, war er auch viel zu ungeduldig.

So war er auch un-abänderlich. Und das machte ihn auf Dauer sehr un-zufrieden und un-glücklich, aber auch un-wirsch, un-nahbar und un-höflich. Irgendwie waren er und alles was er tat immer un-genügend.

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Eines Tages ging Herr Un spazieren und kam an einem wundervollen Garten vorbei, der förmlich vor Leben platzte. Der Inbegriff von Überfluss, voll hübscher Blumen, hohem Gras und grosser kräftiger Bäume.

Mitten im Garten lag jemand auf einer Decke und döste gemütlich. Wie konnte das sein, dass jemand mit einem solchen Garten noch Zeit zum Dösen fand? Herr Un erlaubte sich nie eine Pause und doch sah es bei ihm nicht annähernd so schön aus. Ja, Herr Un strengte sich ständig so sehr an, dass er kaum noch Energie hatte und immer un-motivierter wurde.

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«Hallo, hallo?! Wer ist da?», rief Herr Un-. Er wollte das Geheimnis erfahren. Er machte sich doch allein deshalb täglich einen solchen Stress, weil er immer schon auch gerne einen solchen Garten gehabt hätte.

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«Ich bin die Zeit.» kam es zurück. Die Zeit lud Herrn Un- auf eine frisch gepresste Limonade in ihrem Garten ein. Doch zum Verweilen hatte Herr Un natürlich keine Geduld. Ein kleines Bäumchen gab die Zeit Herrn Un dennoch mit. So hatten ihre grossen Bäume auch mal angefangen, verriet sie Herr Un. Es sei wichtig, das Bäumchen stetig zu giessen, damit es gross und stark werde, betonte die Zeit.

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Nach einer Woche, Herr Un- hatte den Namen Ungeduld schon fast nicht mehr verdient, denn er hatte das kleine Bäumchen wirklich täglich gegossen und gut gepflegt, verliessen ihn seine anfängliche Geduld und Hoffnung wieder. Er nahm das Bäumchen in seinem Topf mit und ging zum Garten von Frau Zeit.


Dieses Mal werkelte sie gerade im Garten herum. Er zeigte ihr das Bäumchen und meinte enttäuscht, es habe ja doch nichts gebracht. Klar, dieses Bäumchen lebte noch – das war schon mehr als sonst bei ihm, aber gewachsen war es kaum. So würde es nie so gross werden, wie die Bäume in ihrem Garten. Seine Nachbarin Frau Angst hatte wohl Recht gehabt. Sie hatte ihm gleich gesagt, das würde nie was werden.

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Da hob Frau Zeit das Bäumchen vorsichtig aus dem Topf und meinte, er solle genau hinsehen. «Erde. Wow. Und jetzt?», dachte sich Herr Un- ungeduldig. Dass ein Baum Erde brauchte, das wusste er ja wohl. Er solle genauer hinsehen, meinte Frau Zeit. Da war nicht nur Erde. Er solle sehen, wie das Bäumchen gewachsen war, meinte sie. Also jetzt konnte Herr Un- Frau Zeit endgültig nicht mehr Ernst nehmen. Bäume wachsen doch nach oben. Da deutete Frau Zeit auf braune wurmartige Fortsätze des Bäumchens, die sich durch die Erde wanden. Die Wurzeln sind gewachsen, meinte Frau Zeit. Na toll, dachte Herr Un. Er wollte, dass das Bäumchen wuchs, nicht die Wurzeln. Die konnte man doch eh nicht sehen. Doch dann meinte die Zeit: «Ich verrate dir mein Geheimnis: Jedes Werden in der Natur, im Menschen, in der Liebe muss abwarten, geduldig sein, bis seine Zeit zum Blühen kommt. (~ Dietrich Bonhöffer). Und weisst du auch warum? Weil zuerst die Wurzeln wachsen müssen und dann erst der sichtbare Teil und auch der braucht seine Zeit.»

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Jetzt, wo Herr Un dieses Geheimnis kannte, fiel es ihm gar nicht mehr so schwer, geduldig zu warten und stetig zu pflegen, denn er wusste, dass es sich lohnen würde.

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Und wie es sich lohnte! Es dauerte, doch nach einer Weile hatte er endlich den Garten, den er sich immer gewünscht hatte und sogar seine Wunden waren verheilt. Da lud er seine Nachbarn ein und auch die Zeit und sie tranken alle zusammen Limonade in seinem Garten.

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Ab da hiess Herr Un nicht mehr Herr Ungeduld, denn man konnte das Un streichen: Er hiess jetzt Herr Geduld, denn er war nicht länger ungeduldig, unzufrieden und was noch alles, er war geduldig und zufrieden und glücklich…

©Ameisli 2021. Der Verkauf sowie jegliche Nutzung dieser Geschichten ausserhalb des Lesens sind untersagt.

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